Wenn Sie ihre Tätigkeit beim Kantonsspital Uri mit der Arbeit bei «Mercy Ships» vergleichen – wo liegen da die grössten Unterschiede?
Meine Einsätze bei Mercy Ships waren bisher alle unterschiedlich und kaum miteinander vergleichbar. Sicherlich spannend ist es, sich jedes Mal auf ein neues Tätigkeitsfeld einzustellen. Das bedeutet auch, dass man mit den Materialien und Medikamenten arbeiten muss, die vor Ort verfügbar sind. In der Schweiz ist alles sehr viel organisierter und planbar.
Sind Sie bei diesen zwei Aufgaben jeweils ganz im «Hier und Jetzt» oder schaukelt «Mercy Ships» in Altdorf auch immer etwas mit?
Ich würde schon denken, dass ich die meiste Zeit im jeweiligen «Hier und Jetzt» bin. Im Prinzip geht es ja auch immer um den Patienten, für den man das Beste will. Manchmal, in ruhigeren Momenten bei Mercy Ships, fängt man an zu vergleichen und stellt fest, dass mit anderen Medikamenten, Monitoring, Materialien und Ausbildung auch ein besserer Outcome zu erreichen wäre.
In welchen Situationen denken Sie in Afrika an Altdorf und umgekehrt?
Vor allem wenn man etwas anwendet, was man auf der «anderen Seite» gelernt hat. Kleine Handkniffe, die einen bei der schwierigen Magensondenanlage noch erfolgreich werden lassen, oder auch den grosszügigen Einsatz des «Bougies» bei der Intubation.
Wie beurteilen Sie die Bedeutung der «Mercy Ships»?
Mercy Ships ist seit 45 Jahren aktiv und hat vielen Menschen in Subsahara-Afrika Chirurgie ermöglicht, die im eigenen Land nicht möglich gewesen wäre. Dadurch haben sie nicht nur zahlreichen Patienten geholfen, sondern auch Vertrauen aufgebaut. Wenn man heute mit Mercy Ships in ein Land reist und dort vor Ort arbeitet, hilft der gute Ruf der Organisation ungemein.
Hat sich diese Bedeutung über die Jahre verändert?
Über die Jahre ist das MCB – das Medical Capacity Building – immer wichtiger geworden. Medical Capacity Building bedeutet, dass die lokalen Fachkräfte vor Ort unterstützt werden mit Ausbildung und Training. Das fängt damit an, dass bei jedem chirurgischen Eingriff auf dem Schiff, der von Mercy Ships durchgeführt wird, auch immer lokale Fachkräfte dabei sind. Weiter geht es über Kurse, die angeboten werden, wie z. B. Safe Surgery, Safe Pediatric Anesthesia, Safe Obs, Biomed Trainings, Kurse in Sterilisationetc.. Und schliesslich auch eben diese Projekte, bei denen ich zuletzt involviert war, bei welchen wir in einheimischen Spitälern arbeiten und durch das gemeinsame Arbeiten voneinander lernen.
Wie viele Menschen helfen und wie vielen wird geholfen?
Pro Jahr haben wir auf beiden Schiffen (Global Mercy und Africa Mercy) 3000 ehrenamtliche Mitarbeitende. Während eines 10-monatigen Einsatzes werden 2000 chirurgische Eingriffe und 8000 zahnmedizinische Eingriffe durchgeführt. Nebenbei bilden wir ca. 1000 – 1500 lokale Leute im Gesundheitsbereich aus- und weiter.
Nachhaltigkeit – mit all ihren Facetten – ist in aller Munde. Welche Aspekte rund um «Mercy Ships» halten Sie für besonders nachhaltig?
Gerade das Medical Capacity Building halte ich für einen absolut nachhaltigen Aspekt von Mercy Ships.
Wann und wie sind Sie auf «Mercy Ships» gestossen?
Ich wusste eigentlich schon immer, dass es Mercy Ships gibt. Ich dachte nur anfangs, dass ich erst Studium und Facharzttitel benötige, um helfen zu können. Mittlerweile weiss ich, dass es für beinahe jede Profession auf dem Schiff einen Arbeitsplatz gibt.
Wie sieht Ihr Engagement konkret aus?
Man bewirbt sich auf der Homepage von Mercy Ships für die angestrebte Position. In meinem Fall hatte ich mich 2017 als Anästhesistin für den OP beworben. In der ersten Runde wurde ich zwar für den Anästhesisten-Pool akzeptiert, aber bekam keine Stelle für den OP auf dem Schiff. Später trat dann das MCB-Team an mich heran und fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte als Trainer bei den Safe-Surgery Kursen mitzumachen.
Mercy Ships begleitet einen dann durch den weiteren Prozess, bis es wirklich an den Einsatzort geht: Die finanzielle Planung, die nötigen Impfungen und Versicherungen, das Flugticket. Es gibt ein «Volunteer Guide Book», ein komplettes Handbuch, indem alles erklärt wird, was zum Leben auf dem Schiff mit Mercy Ships und auch für das jeweilige Land wichtig zu wissen ist.
Woher nehmen Sie die Motivation und Energie für diese ehrenamtliche Tätigkeit? Ihre tägliche Arbeit als Anästhesieärztin in einem Kantonsspital stelle ich mir bereits sehr fordernd vor.
Am Anfang war es dieses Gefühl «das wollte ich schon immer mal machen!». Mittlerweile ist es aber auch ein Drang, etwas gegen die soziale Ungerechtigkeit zu tun. Kein Patient ist schuld daran, dass das Gesundheitssystem in diesen Ländern so ist, wie es ist. Und sie haben genauso wie wir hier in der Schweiz die beste medizinische Leistung verdient.
Wie lange sind Sie während einer Mission «auf See»?
«Auf See» ist man tatsächlich kaum. Die Einsätze eines Schiffes in einem Land sind typischerweise 10 Monate lang. In dieser Zeit liegt das Schiff im Hafen und fährt nicht raus auf See. Die Einsätze, die man als Freiwillige macht sind mindestens zwei Wochen lang, gerne aber auch länger. Ich war z. B. einmal 5 Monate und zweimal 3 Monate im Einsatz.
Wie sieht das Leben auf dem Schiff aus?
Während meines erstens Einsatzes durfte ich ein wenig «Schiffsluft» schnuppern, reiste jedoch die meiste Zeit mit dem Safe-Surgery-Team durch das Land, um die einzelnen Spitäler zu besuchen. Wir waren dann nur am Wochenende auf dem Schiff, um unser Büro in Ordnung zu bringen und unsere Vorräte aufzustocken. Hin und wieder auch eine ganze Woche am Stück, wenn wir beispielsweise ein Hauptstadt-Spital besucht hatten.
Das Schiff ist eigentlich ein komplettes Spital, ein komplettes Schiff und ein komplettes Dorf in einem. Man teilt sich die Kajüte mit anderen Freiwilligen beim ersten Mal hatte ich 5 Mitbewohnerinnen – Mahlzeiten werden in der Mensa eingenommen und es gibt ein grosses Wohnzimmer, das «Midship». Wenn man in seiner Freizeit Lust hat, etwas zu unternehmen, gibt es immer jemanden, der auch für einen Ausflug zu haben ist. Es ist natürlich schon etwas anstrengend mit allen Arbeitskollegen auch zusammen zu leben. Aber daran gewöhnt man sich.
Werden Sie von Ihrem Arbeitgeber – oder der Industrie – direkt mit Ressourcen unterstützt?
2021 hatte ich das Glück, dass mir unbezahlter Urlaub genehmigt wurde. Typischerweise kommt man für Unterkunft und Verpflegung selbst auf oder baut sich einen Spenderkreis auf, der einen unterstützt.
2021 konnte das Schiff covid-bedingt nicht wie üblich agieren, so dass ein kleines Team in Liberia in einem einheimischen Spital gearbeitet hat und dabei auch einige «Mercy Ships typische» Fälle operiert hat. Wir haben viele zu grosse Schilddrüsen oder Lipome entfernt und teilweise auch Parotidektomien durchgeführt (Entfernung der Ohrspeicheldrüse). Bei diesen Operationen waren wir sehr dankbar, dass die Firma ANKLIN uns über Patrick Berger ein Videolaryngoskop mitgegeben hat. Manche dieser Fälle wären mit dem dort vorhandenen Equipment sicher nicht zu intubieren gewesen.
2022 arbeitete ich dann «allein» – d.h. ohne andere Mercy Ships Mitarbeitende – in einem Spital in Liberia. Auch dort konnte ich ein Videolaryngoskop einsetzen. Zur Freude aller konnte dieses durch Mercy Ships an das dortige Spital gespendet werden.
Was ist ihre grösste Herausforderung bei «Mercy Ships»?
Ich glaube die grösste Herausforderung ist, dass es nicht immer so kommt, wie man denkt. Arbeiten in Afrika bedeutet oft Flexibilität, was den zeitlichen Ablauf, das vorhandene Material oder Medikamente angeht. Oder dass das OP-Programm auch vom Funktionieren eines Aufzuges abhängig sein kann. Wir in Europa lieben es, einen genauen Plan zu erstellen, was wann genau zu passieren hat. Man muss lernen, dass auch wenn nicht alles so voran geht, wie man es gerne möchte, man trotzdem zum Ziel kommt.
Wie meistern Sie diese?
Geduld. Und manchmal einfach tief durchatmen.
Gibt es Geschichten von Patientinnen oder Patienten, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Ja, einige. Auch viele traurige Geschichten. Es gibt aber auch einige Kinder, denen wir helfen konnten. Das tut der Seele dann schon gut und man ist mit manchem wieder versöhnt.
Wie stark verfolgen Sie die politischen Entwicklungen in Afrika aus der Schweiz?
Jetzt im Oktober sind Präsidentenwahlen in Liberia. Da hofft man natürlich, dass sich danach eine gute Regierung bildet, die das Beste für das Land und das Gesundheitssystem im Sinn hat.
Der aktuell jüngste Putsch in Gabun war der neunte in Afrika seit 2020, beschäftigen Sie solche Nachrichten und Entwicklungen?
2021 gab es einen Putsch in Guinea, wo ich 2018/2019 gearbeitet hatte. Eine Kollegin und Freundin aus unserem Team lebt dort nach wie vor und wir machten uns natürlich Sorgen um sie. Aber auch um das Land. Und um all diejenigen, die unschuldig unter so einem Putsch leiden. Diese Unruhen hatten sich aber schnell wieder beruhigt.
Inwiefern erwarten Sie, dass diese politischen Veränderungen auf «Mercy Ships» und Ihre Einsätze einen Einfluss haben (können)?
Mercy Ships kommt auf Einladung der Regierung in ein Land. Wenn sich die politische Situation ändert, ändern sich natürlich auch die Vertragslage und die Zusicherung von Ressourcen. Des Weiteren geht es auch um die Sicherheit der Freiwilligen an Bord und um die der Patienten, die ja aus dem ganzen Land kommen. Reisen wird dann gefährlicher. Bisher wüsste ich nicht, dass ein Einsatz wegen politischer Unruhen abgebrochen werden musste.
Haben Sie einen nächsten Einsatz geplant?
Nächstes Jahr werde ich für 6 Wochen auf der Global Mercy im OP arbeiten.
Was geschieht in Ihnen, wenn Sie an diesen nächsten Aufenthalt denken?
Ich bin gespannt, welche neuen Herausforderungen auf mich zukommen werden, und freue mich mit einem internationalen Team zusammen denen zu helfen, die sichere und bezahlbare Chirurgie genauso verdienen, wie jeder hier in der Schweiz und in Deutschland oder sonst irgendwo auf der Welt.